Grußkarten-Melancholie

Lesezeit   4 Minuten

Es ist der letzte Gang dieses traurigen kleinen Rechtecks aus bedrucktem Karton – die Nummer 27, abgeschickt von Harry Weinerlings Sekretärin. Harry ist Vorstand der Kreissparkasse Hinterduxhausen, aber das nur nebenbei. Nummer 27 hat eine Existenzkrise. Grundsätzlich findet er die Idee, die hinter seiner Schöpfung steckt ganz nett. Wer würde nicht gerne ein Weihnachtsgruß sein. Maximale Besinnlichkeit im praktischen Briefumschlagformat. Auf Nummer 27 steht Weinerlichs Unterschrift in echter Tinte, es muss schon persönlich sein, sonst wirkt der Weihnachtsgruß doch nicht. Trotzdem fühlt sich Nummer 27 irgendwie komisch.

Angeschaut hat sich Herr Braun die drei Zeilen plus Tinte nicht. Dabei ist das Bibelzitat aus Jesaja 41 Vers 10 wirklich ergreifend. „Fürchte Dich nicht“ – hätte Nummer 27 Augen gehabt, sie wären bei seinem Druck vor Rührung wässrig geworden. Axel Braun ist übrigens der Abgeordnete, dessen Adresse auf dem Umschlag stand, in dem Nummer 27 zugestellt wurde. Kennengelernt hat Nummer 27 bisher aber nur Dieter, die studentische Hilfskraft. Der hat ihn dann auf diesen Stapel gelegt. Hier steckt Nummer 27 jetzt, eingequetscht zwischen 43 seiner Kollegen. Auf Ihnen sind lustige Bildchen, Dankesworte und schlaue Zitate abgebildet, ähnlich wie Dieter sie auf diesem Facebook-Ding des Öfteren anschaut. Besonders schlauen Sprüchen gibt er dann immer ein „Gefällt mir“. Es ist schon Januar, die Weihnachtsstimmung hat sich für elf Monate in den Urlaub abgemeldet. Nummer 27 ist enttäuscht. Das Abgeordnetenbüro hat erst seit ein paar Tagen wieder geöffnet. Jetzt weiß er nicht so richtig, was er hier soll. Irgendwie fühlt er sich gerade wie ein Clown, der den Kindergeburtstag verpasst hat.

Da ist Dieter. Er greift den obersten der Weihnachtskarten-Kollegen. Dieter schaut sich die Karte an und trägt den Absender in eine Excel-Liste ein. „Das kann nicht sein“, sagt sich Nummer 27. Hätte er ein Gesicht gehabt, wären seine Augen vor Empörung weit aufgerissen. Dieter wirft den Kollegen einfach so, ohne in seiner Bewegung auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu zögern in den Papierkorb. Wo ist Herr Braun? Soll das alles gewesen sein? Kein Lächeln des Abgeordneten? Leuchtende Augen? Ein kurzes Abschweifen zur Erinnerung an das letzte Treffen? Nichts? Nicht einmal die Ablage in der Schublade für hübsche Andenken? Es war dieser Moment, als Nummer 27 zum ersten Mal über die Sinnhaftigkeit des eigenen Seins wirklich nachdachte, nicht nur über die eigene Existenz, sondern auch über die seiner Kollegen. Nummer 27 begann zu rechnen.

Die Fragen tanzen einen chaotischen Walzer im Kopf der besinnlichen Grußkarte. Ein dumpfes Gefühl macht sich in der Gegend breit, in der man sich seine Magengrube vorstellen müsste. Nummer 27 denkt noch weiter. Er denkt an all die Landesparlamente, all die Sparkassen und Großkonzerne, all die Versicherungen und Verwaltungen. Alle produzieren sie Stapel an Papiergrüßen, die in Papierkörben landen. Es müssen hunderte Millionen Euro sein, eine riesige Gruß-Verschickungsindustrie, damit am Ende all die Büro-Assistenten und Studentischen Hilfskräfte unbeachtete Excel-Listen anlegen, um Typen wie Nummer 27 danach ohne schlechtes Gewissen in die Tonne kloppen zu dürfen.

Es wird hell. Der plötzliche Lichteinfall reißt Nummer 27 aus seinen Überlegungen. Er konnte sich gar nicht von seinem Nachbarn verabschieden. Nummer 26 liegt jetzt in den Händen von Dieter. Nummer 27 beobachtet, wie Nummer 26 im Papierkorb verschwindet. Nummer 27 wird traurig. Er denkt nach: „Wenn es uns nicht gäbe, könnte mit all dem Geld etwas Sinnvolles getan werden. Man könnte es zum Beispiel auf das Konto packen, das auf der Vorderseite von Nummer 14 steht. Kindern in Afrika helfen, warum nicht? Wie vielen könnte man helfen, nur wenn es uns nicht gäbe?“ Dieter packt Nummer 27. Angst hat die kleine Weihnachtsgrußkarte nicht mehr, dafür ist Nummer 27 gerade zu traurig. Bevor ihn der fesche Student im Karohemd in den Papierkorb fallen lässt, rauscht Nummer 27 noch ein Satz durch den Kopf: „In meinem nächsten Leben werd‘ ich Zeitungspapier.“

search previous next tag category expand menu location phone mail time cart zoom edit close