Freizeitparks. Du würdest mit dem Menschen, der diese dreckigen Auswüchse unserer Konsum-Power-All-you-can-eat-Spaßgesellschaft erfunden hat, gerne mal über ein paar Runden in den Ring steigen. Wie viel Leid mussten Familien schon in diesen Höllenlöchern ertragen? Die Geschichte läuft doch immer irgendwie so: Einmal im Jahr willst du ihr etwas gönnen, deiner Family. Einmal im Jahr wird richtig auf den Putz gehauen. Sie kennen alle die Anzeigen: Überdimensionale Plüsch-Visagen singen aus Bildschirmen und Plakatwänden ein Lied von der besseren Welt hinter hohen Zäunen. Dort, wo es nur den Rausch der Achterbahn-Glückseligkeit gibt, angetrieben vom Gift raffinierten Zuckers. Es ist ein Spiel mit der Hoffnung auf ein Körnchen Spaß-Maximierung abseits des adrenalinfreien Alltags. Die Tatsache, dass du mit deinen knapp 2000 Euro Netto im Monat ein Haus und drei Bälger unterhalten musst, verdrängst du in die Winkel deiner Großhirnrinde, wo das elektrische Flackern der Synapsen nur ein Wetterleuchten am Horizont deines Bewusstseins ist. Vielleicht freundet sich hier der Gedanke mit deinem Selbstwertgefühl an, das sich vor gut drei Jahren in dieser Hirn-Region häuslich niederließ – irgendwo am Ort, an dem alles irgendwie grau ist. “Kinder, wir fahren in den Family-Fun-Park.” Deine Brust schwillt vor stolz. Du bist der Held, alle schreien. Naja, nicht alle. Der 15-jährige hält sich etwas zurück. In seinen Augen findest du eine Vorahnung auf den Horror, der einer Familie in dieser Mickey-Mouse-Zuckerwatte-Hölle begegnet.
Es kommt der Samstagmorgen. Du hast schlecht geschlafen. Du hast dir vorgenommen, keinen einzigen Gedanken an das passiv-aggressive Gift deines Bosses zu verschwenden. Dein Plan ist kläglich gescheitert. Zäh fließt es durch deine Venen, macht dich langsam, lenkt dich ab. Immer wieder kehrst du mit deinem Kopf an diesen Schreibtisch zurück, deinem Folterkeller. Erinnerungen an Wachsein ohne Müdigkeit, sie sind längst verblasst – Schatten längst vergangener Tage.
Aber nicht heute, heute bist du der Dad mit Cape, der Ernährer, der Unterhalter. In deiner kleinen Welt bist du heute der Boss, ein Alpha-Schwein, das Spaß verbreitet, anstatt sich an fein orchestrierter psychologischer Kriegsführung im Office-Hamsterrad zu üben. So versuchst du es dir zumindest einzureden.
Die Realität zeichnet ein anderes Bild: Den Aufschlag macht der 15-Jährige. Er scheint zu cool zu sein, um mit seiner Familie in einen Spaß-Tempel zu fahren. Zwei Richtungen: Wut oder Flehen. Du entscheidest dich für Letzteres. “Jetzt komm schon, du hast es versprochen, deine Mum und deine Geschwister freuen sich doch, wenn du dabei bist, bitte”. Glückwunsch, du hast gerade an die menschliche Seite eines 15-Jährigen appelliert. Genauso gut hättest Du auch ins afghanische Bergland fahren können, um bei den Taliban-Stammesführern in einem lockeren Mediationsgespräch konstruktive Kritik an ihrer Arbeit zu üben. Jungs, jetzt mal im Ernst, diese ganze Sache mit den Bomben und Märtyrer und so, seid ihr euch im Klaren darüber, dass hier Gefühle anderer Menschen verletzt werden? Das is‘ ziemlich uncool. Ok, dann doch die gute alte “Schwing deinen Arsch in das Auto oder ich werde deinen Laptop ab heute als meine persönliche Körperwaage verwenden. Und glaub mir Gringo, fünfzehn Ehejahre mit dem High-Carb-Fraß deiner Mutter werden diese verschissene Daddelkiste zu Brei zermahlen lange bevor du noch einmal speichern kannst”-Rede.
Das funktioniert. Der kleine Bastard sitzt im Auto. Doch dein Sieg über den Teenager kostet. Schon nach den ersten Metern zeichnen sich erste Risse in der “Hurra, wir fahren in den Park”-Stimmung ab. Die Elfjährige und der Knirps kriegen glücklicherweise noch nichts mit. Nur Tanja sieht danach aus, als würde sie sich den linken Ringfinger dafür abbeißen, jetzt mit einem Glas Wein vor der Glotze zu hängen, nachdem sie die Kinder für ein Jahr ins Ferienlager abgeschoben hat.
Zwei Stunden geschafft. Die Autofahrt war ruhig. Danke “Drei Fragezeichen”. Autotür auf. Die Kühle des Morgens hat sich verzogen. Nicht eine Wolke am Himmel. Es wird ein Tag, der die Anzeige im Thermometer Richtung 40 Grad Celsius schiebt. Der Plan war: Früh losfahren, direkt reinkommen. Er war in etwa so naiv wie mit dem 15-Jährigen auf einer rationalen Ebene argumentieren zu wollen.
Schlange vor dem Eingang. Sie ist ein Vorbote auf das Innenleben dieses Familieninternierungslager. Hier hätte es allerdings gerne noch etwas länger dauern dürfen. 15 Minuten süße Pufferzeit. Auf das, was jetzt kommt, bist du sicherlich nicht scharf. Kurzer Rückblick: Der einzige Grund warum deine Familie heute hier vollzählig antritt, geht auf einen Wunsch der Elfjährigen zurück. Wobei Wunsch ist wohl der falsche Ausdruck dafür. Es war eher eine Ansage, deren Widerspruch wohl den direkten Sturz von einer Brücke nach sich gezogen hätte. Denn die Elfjährige wird heute zur Zwölfjährigen. Irgendeine von ihren nervigen Dumpfbacken-Freundinnen musste vor Monaten damit prahlen, dass sie an ihrem Geburtstag umsonst in den Family-Fun-Park durfte. Ihre einzige Leistung bestand darin, in zwölf Jahren das Atmen nicht vergessen zu haben. Das konnte die Elfjährige nicht auf sich sitzen lassen.
Darum stehst du jetzt hier. Du zückst in Zeitlupe dein Portemonnaie, zählst die Scheine. Deine Ohren klingeln als hätte neben dir eine Granate eingeschlagen. Natürlich regst du dich seit Wochen über die Preise in dem Laden auf. Doch hier im Original die Rechnung zu hören, die letzte Hoffnung aufzugeben, dass bei der Preisgestaltung im Netz nur ein Komma verrutscht ist. Das haut den härtesten Soldaten um. 191 verschissene Euro will der Mann mit dem freudlosen Lächeln. Dreimal Erwachsene, ein Kind. Das Kind kostet generöse sieben Euro weniger. Die Zwölfjährige darf “umsonst” rein, Geburtstag und so. Sollte dir jemals dieser Marketing-Mensch, dieser ingenio diabolicum, irgendwo per Zufall über den Weg laufen. Du malst dir die Szene aus, wie du ihm zu seinem Coup gratulierst, während sich dein Festool-Akkuschrauber mit dem achter Bohrer langsam in seine Schläfe wühlt. Tagtraum vorbei. Die Augen des Mannes im Kassenhäuschen entschuldigen sich. Dafür, dass Du ihm gerade den Gegenwert eines Brunnens für äthiopische Kinder durch den kleinen Schlitz schieben musstest. Deine Augen entschuldigen sich für die ganze “Acht Stunden am Tag hinter einer Glasscheibe sitzen”-Situation. Ihr verabschiedet euch mit einem Nicken. Eine kompakte, emotionslose Geste, ein Zeichen des Respekts, ein kurzer Moment der Anerkennung eures gegenseitigen Leids.
“Hurra wir sind im Family-Fun-Park” Das “bitte schießt mir in den Kopf”-Gefühl der vergangenen Monate. Es pocht hinter deiner Stirn, pulsiert zum Takt der stechenden Schmerzen, die ab deinem Vierzigsten zum treuesten deiner Begleiter wurden. Die meisten der anderen Begleiter – deine Brüder der vergangenen Jahrzehnte, Krieger mit denen du die wildesten der Drachen erschlugst, die schönsten aller Mädchen vergöttert hast – sie sind längst weg, schlagen ihre eigenen Schlachten, in ihren eigenen Vorstadt-Horrorfilmen.
Du siehst sie zweimal im Jahr, Cookie und Stan, die eigentlich Christian und Steffen heißen. Whiskey, eine Schachtel Zigaretten, die Musik hunderter Drecksau-Hauspartys und die Sehnsucht nach einer Zeit, in der ein Blick auf den Arsch von Annika Häuser aus der Siebten unser Herz für ein paar Sekunden im gleichen Takt schlagen ließ wie alles Schöne auf dieser Welt. Diese Zeit, sie fließt an diesen Abenden wie ein Strom goldenen Glückes in deiner Erinnerung vorbei, der Whiskey verteilt sie in jeder Ader deines Körpers.
Neben den beiden Pflichttreffen siehst du Cookie und Stan eigentlich nur noch in deinem Instagram-Stream, dem Ort wo immer alles “geil” ist, jeder Urlaub der Schönste, jedes Selfie das coolste, jeder Kaffee der hippste. Dort sind die beiden keine Mittvierziger mit Jugendkomplex, dort sind sie George Clooneys der Provinz, immer eine Ecke zu lässig für die Großstadt, ein bisschen Dad-Influencer mit Rock’n’Roll im Blut.
Hinter dem Stream, das weißt du aus den Erzählungen, die erst nach der halben Flasche Whiskey wirklich “real” werden, schlägt sich Stan mit einem demenzkranken Vater herum – Heime sind verdammt teuer, Geschwister hat er keine, der Staat will ihm an das bisschen Vermögen, was er sich in den paar Jahren als Angestellter erbuckelt hat. Dann ist da noch die Schuld, das schlechte Gewissen, weil er ihn nicht Zuhause pflegen kann, will, wasauchimmer. Er hofft, dass es nicht zu lange dauert. Das hat er sich mittlerweile eingestanden. Er hofft, dass sein Vater bald stirbt. Den letzten Satz hat er gesagt, kurz bevor ihn der Whiskey-Schlaf in seine warmen Arme nahm.
Die ersten Sonnenstrahlen des nächsten Tages weckten ihn damals so sanft wie ein Vorschlaghammer, der aus großer Höhe auf seiner Schläfe landet. “Dein Junge hat ein FUUUUUUUSSSBAAAAAALLSPIEEEEEL”, dröhnte es in seinem Kopf. Alles ziemlich beschissen, aber seien wir ehrlich, alles auch ziemlich Standard. Genau wie die mittelschwere depressive Episode, die der Arzt ihm auf einen gelben Zettel geschrieben hat, nachdem er in dessen Praxis zusammengebrochen war wie ein Jenga-Turm nach einer halben Minute Spielzeit mit einem Dreijährigen.
Ein paar Wochen Kur-Klinikaufenthalt mit ganz viel “zu sich selbst finden” und “Power-Yoga”-Schwachsinn. Sein Chef sagte “kurier dich gut aus, du schaffst das”, während er im Kopf überschlug, wie deutlich ihm ein Ersatz für Stan die Bilanz verhagelt. Seine Kollegen zeigten “vollstes Verständnis”, wünschten ihm das Beste und hatten ein leicht schlechtes Gewissen, wenn sie darüber sinnierten, ob er sich nicht doch einfach ein bisschen “Extra-Urlaub rausgelassen” hat. Wenn sie im Stillen mit ihm sauer waren, weil sie seinen Workload jetzt unter sich aufteilen sollen, hat sich das mit dem schlechten Gewissen recht schnell erledigt.
Die Kur hat laut Stan den Vorteil, dass er sich keine Gedanken mehr darum machen muss, seine Frau schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr gefickt zu haben. Irgendwann zerschießt dir eine handfeste depressive Störung deine Libido. Was im Falle von Stan ziemlich tragisch ist. Sein Penis und dessen Abenteuer waren in eurer Jugend verantwortlich für Legenden, die ihr euch heute noch im Suff erzählt. Jetzt hofft er gerade einfach nur, dass seine Frau noch eine Weile keinen anderen vögelt. Wobei diese Aussage so nicht stimmt. An einem anderen Abend, nach einer anderen Flasche Whiskey, brabbelte er etwas anderes. Ein Teil von ihm wünscht sich, dass sie einen anderen hätte, jemanden, der sie glücklich macht, jemanden ohne Demenzvater und mit funktionierendem Schwanz.
Du denkst an Tanja, denkst an die Jahre als ihr quasi keine Nacht nebeneinander einschlafen konntet, ohne euch zuvor gegenseitig das Hirn aus dem Schädel zu vögeln. Die Phase hat ungefähr drei Jahre gedauert. Dann kam der heute 15-Jährige, nachdem er ein Jahr alt wurde, ging die Koitus-Kurve noch einmal nach oben. Ihr wart eine junge Familie, wart irgendwie glücklich. Die Kohle war knapp, aber ihr wart ein Team – drei gegen den Rest der Welt, Tanja, Du, der Knirps. Du kannst dich noch genau an die Nacht erinnern, als ihr den Zwerg zum ersten Mal Richtung Großeltern abschieben konntet. Selbst nach 14 Jahren lächelst Du beim Gedanken an diese Nacht. Auf deiner Liste der zehn besten Ficks deines Lebens rangieren diese dreieinhalb Orgasmen irgendwo zwischen Platz drei und fünf. Es war als wärt ihr wieder Teenager und Ficken die geheimnisvollste, übertriebenste und geilste Sache der Welt.
Nachdem die Zwölfjährige im Anmarsch war, hörte es auf mit der Vögelei. Tanja und Du, ihr habt nie wirklich darüber geredet. Eine Family mit zwei Kindern und zwei nicht wirklich prallen Gehaltsschecks am Laufen zu halten, macht die Räume für den Vollzug der Ehe irgendwie enger. Die Baustellen nahmen gefühlt exponentiell zu: Der Kleine ist krank. Das Auto hat Kolbenfresser. Bei der nächsten Karre rauscht Tanja jemand in die Seite. Ein 19-jähriges kleines Arschloch, der denkt, er kommt mit seiner Geschichte durch. Vor Gericht gewinnt ihr, doch die Monate bis dahin zehren an eurer Substanz, vor allem weil Tanja sich eigentlich auf das Gesundwerden konzentrieren sollte. Deine Tante wird krank, liegt bald im Sterben. Streit mit den Geschwistern. Irgendein Bullshit wegen des Erbes. Zu der Zeit atmet dein Vater noch. Dann hört dein Vater auf zu atmen. Dann stirbt Tanjas Mutter. Überhaupt scheint es, als ob quasi jeder in deinem Umfeld an Krebs erkrankte, sobald du die 35-Jahre-Marke gerissen hattest. Rechnungen, Gräber, Autowerkstätten, Nebenkostennachzahlung, Waschmaschine kaputt, neue Sachen für die Kinder, dein kleiner Bruder braucht Kohle, weil er Stress mit dem Finanzamt hat, das Haus deiner Eltern muss renoviert werden. Smartphone kaputt. Das Ersparte verschwindet viel schneller, als dass es erspart werden kann. Alles fängt irgendwann an, sich zu drehen, ein Karussell der Scheiße, dessen Fliehkraft dir die Energie aus den Knochen saugt. Alles passiert zu schnell, du jagst von einer Baustelle zur nächsten. Kohle, Krankheit, Rechnungen, Kinder, Krebs, Familie. Es gibt keine Dinge mehr, die es zu erledigen gibt, es gibt nur noch Schäden, die begrenzt werden müssen. Deine To-Do-Listen schreien dich an, deine Kinder schreien dich an, du schreist Tanja an, Tanja schreit zurück, manchmal weint sie. Wer zur Hölle kann bitte bei dieser ekelerregenden Achterbahnfahrt noch an Zärtlichkeit denken?
Du kannst dich nicht mal mehr wirklich daran erinnern, wie es war, in deinen Zwanzigern, als dein Penis zu weiten Teilen dein Handeln bestimmt hat. Heute bist du froh, dass du dir noch einmal in der Woche einen runterholen kannst, um sicherzugehen, dass dein Schwanz überhaupt noch funktioniert.
Alles halb so wild, alles machbar. Schwierig, aber machbar. Mit Stan würdest du trotzdem nicht tauschen wollen. Nach seiner Geschichte nimmst du ihm seine Plastikwelt kompromissloser Instagram-Geilheit gar nicht mehr übel. Jeder trägt sein eigenes Paket.
“Durchhalten man”, der Gedanke geht an Stan, aber auch an dich selbst. Du schaffst es, dich jeden verdammten Tag hinter diesen Schreibtisch zu klemmen – und das ohne ernsthaft einen Amoklauf in Erwägung zu ziehen – du wirst auch einen Familientag im Family-Fun-Park überleben. Wieder so ein Gedanke, der an der Wahrheit vorbeizieht ohne zu winken. Du hast dich ertappt. Selbstverständlich denkst du über den Amoklauf nach. Wie du ins Büro deines Arbeitgebers schlenderst, seit Wochen das erste Lächeln im Gesicht. Die Mauern sehen an diesem Montag aus, als hätte ihr Grau seine Hässlichkeit abgelegt. Du weißt nach vier Jahrzehnten, wie sich Erhabenheit anfühlt. Fünf Meter bis zur Glastüre. Dahinter wartet das Monster. Der Balrog, dessen Herz du herausschneiden willst. “Schlemmer, gut, dass sie da sind, wir müssen den August-Bericht noch einmal überar…” Weiter kommt er nicht. Sein Hinterkopf explodiert in einem Wust aus Hirnmasse und schleimigem Blut. Die schneeweißen Vorhänge, hinter denen sich dieser fantastische Blick auf Stuttgart ausbreitet, ihnen fliegen Fetzen entgegen, rote Perlen ziehen in Zeitlupe durch die Büroluft. Sie sprenkeln das Weiß mit einem chaotischen Muster, dessen Punkte sich zu einem schmierigen Fleck genau hinter Rathwinkels Schreibtisch vereinen. Sein halbes Gehirn klatschte auf die Stelle, kurz nachdem du ihm das Projektil in die linke Augenhöhle geschossen hast. Er wird es beim nächsten Mitarbeitergespräch schwer haben “mehr Performance” zu fordern, kein “wir müssen uns mit den Besten messen können”, kein “positive Entwicklung bei ihnen, aber…”.
Du legst die Waffe auf den Schreibtisch und holst dir eine Tasse von der heißen Automaten-Pisse. Sie schmeckt – zum ersten Mal, seit fast einem Jahrzehnt. Es muss die neue Würze sein, auf dem Etikett steht so etwas wie “Selbstzufriedenheit”. Du rufst die Polizei: “Chef erschossen”, “Ja, ich”, “nein niemand verletzt”, “Ja tot”, “Ja bitte schicken sie jemanden”, “Ja, ich werde da sein”, “Ja, unbewaffnet”. Du setzt dich hin und malst dir dein neues Leben aus: regelmäßige körperliche Betätigung, pünktliches Essen, keine Steuererklärung, kein Stress, nichts. Vielleicht fängst du an, dich mit Literatur zu beschäftigen, wer weiß.
Zurück im Park. Du erinnerst dich daran, dass du kein soziopathisches Arschloch bist. Sie geht dir mächtig auf den Sack, deine kleine Mannschaft, aber verdammt, sie ist nunmal deine Mannschaft. Wobei dem 15-Jährigen würde es wahrscheinlich gefallen. Ein Vater im Knast, das muss Punkte auf dem Street-Cred-Konto seiner kleinen Straßenbande geben, diesem lächerlichen Haufen an aufmüpfigen Bauernhof-Gangstern, die ihre Freizeit mit 187-ACAB-Schmiererei verbringen, nur um sich bei der ersten Nacht in der Ausnüchterungszelle vor Angst die Hosen vollzuschiffen. Ach, manchmal so eine kleine Watschn, wäre sie wirklich so tragisch?
Bevor du weiter über das Pro und Contra von körperlicher Züchtigung bei Teenagern nachdenken kannst, holt dich die Elf- jetzt Zwölfjährige zurück ins Geschehen. Es ist Mittag. Der Fünfjährige hat bisher zweimal geheult, weil er zu kurz für die verdammten Achterbahnen ist, das Regime der Zwölfjährigen, wann wir wo hin müssen, wird glücklicherweise von allen akzeptiert. Mittagessen, jetzt, sofort, sonst alles Dumm. Du willigst ein ohne groß darüber nachzudenken. Bisher war die einzige interessante Beschäftigung für dich in diesem Park, einem Smiley-Gesicht in seine Fratze zu starren, neben dem die Worte “noch 45 Minuten Wartezeit” stehen. Kopfrechnen, hat dir schon immer gefallen, deswegen weißt du auch, dass bei einem Eintrittsgeld von 191 Euro und einer Aufenthaltsdauer im Park von sieben Stunden – man will ja wirklich alles mitnehmen – jede verschissene dieser 45 Minuten Wartezeit passende 45 Euro-Cent kostet. Deine gesamte Familie steht vor diesem Fahrgeschäft, eingeklemmt zwischen adipösen Engländern und einer Dörrobst-Mannschaft, die wahrscheinlich meint, dass Altersschwäche zu uncool ist, um den Abgang zu machen. Herzinfarkt in der Achterbahn klingt doch irgendwie spannender. Wahrscheinlich werden es einige dieser ledrigen Tennissocken-Krieger gar nicht bis in den Wagen schaffen. Die Temperatur kroch während der vergangenen zwei Stunden locker über die 30 Grad.
Das Smiley-Face grinst dich an. Schweiß auf deiner Stirn, überall Menschen, sie sprechen – laut, hektisch. Eis tropft auf den Boden, “Gib mir mal das Wasser”, “hast du noch Kekse”, “Mama wie lange müssen wir noch stehen”, “warum geht denn das nicht schneller”. Es sind mehr als 20 Euro verdammt, 20 verdammte Öcken, um für eine Achterbahnfahrt anzustehen, die innerhalb von zweieinhalb Minuten vorbei ist.
Du denkst an die Nacht der Halloween-Party, damals vor 13 Jahren. Hättest du noch drei Plastikbecher von der verdammten Glubsch-Augen-Bowle in dich hineingeschüttet, du wärst wahrscheinlich zu besoffen zum Vögeln gewesen. Dann wäre die Zwölfjährige vielleicht an einem milden Oktobertag geboren worden, nicht an einem Samstag im verschissenen Juli. In Gedanken starrst du weiter auf das Smiley, sehnst dich nach der Fähigkeit aus deinen Augen mit Lasern zu schießen wie Superman. Innerhalb von Sekunden hättest du Meister Smiley-Face zu milchiger Schlacke verbrannt.
47-einhalb Minuten später, Fahrt vorbei, rauf, runter, Looping, oh mein Gott wie aufregend. Der Adrenalinrausch war kurz aber intensiv, irgendwo zwischen dem Schlüssel-losen Griff in die Hosentasche und einer Bär-Attacke in den Rocky Mountains. Lächeln in allen Gesichtern. Jetzt essen. Tanja und der Fünfjährige stehen am Ausgang. Der kleine Scheisser scheint sich beruhigt zu haben. “Papa, Mama und ich waren in der Geisterbahn”, “Was, echt? Boah und war es gruselig?”, “Neee”. Das bisschen Small-Talk muss sein. Nachdem du dir in Gedanken einen Partyhut aufsetzt, weil die Stimmung sich auf ein ertragbares Maß einzupendeln scheint, geht es zur Fressbude. Du hast die Planung dieses Tages einer Zwölfjährigen überlassen, kleiner Szeneapplaus. Das war in etwa so schlau wie die Aktion eines Australiers, der versucht hatte aus dem fünften Stock eines Wohnhauses zu scheißen. Nach zwei Sekunden Fall und einem laut Zeugen herzerweichenden Schrei klatschte er mit heruntergelassenen Hosen auf den heißen Asphalt – das wars, Darwin-Award, alle Jubeln. Bis auf seine Angehörigen selbstverständlich, die sich in den Gesprächen um die Todesursache ihres geliebten Sohnes immer leicht beschämt irgendetwas von Sturz und tragischem Unfall erzählen. Du hättest liebend gern seine Grabrede gehalten. Irgendwas muss euch verbinden.
Die Zwölfjährige hat sich für das Mittagessen die Mittagszeit ausgesucht. Ziemlich… böser … Fehler. Du stehst in der Schlange. Hinter dir liegen weitere 15 Wartezeit, um die Bestellung aufzugeben. Tanja erboxt sich ein paar Meter weiter einen Platz zum Sitzen und du stellst dich – wieder – in eine Reihe von traurigen Individuen, die darauf warten, endlich Eimer an frittierten Lebenszeitverkürzungs-Instrumenten in ihren Rachen zu stopfen. Verdammt, wir waren einmal Jäger, rannten Kilometer, um das Herz eines Rehs mit dem Speer zu durchbohren. Das ist aus uns geworden? Vor deinen Augen läuft das Park-Taxometer weiter.
Die Fütterung deiner Mannschaft kostet hier in etwa so viel wie ein Wocheneinkauf inklusive Zigaretten. “Gott, was bist du billig, an so einem Tag auf jeden Cent zu starren”. Doch die Zeiten, in denen ein Familienvater mit Durchschnittseinkommen allein Haus, Hund und Familie versorgen konnte, sie sind lange vorbei. “Wir haben damals auch noch ordentlich gebuckelt”, hat Papa immer gesagt. 50, 60 Stunden in der Woche. Dir wird schlecht bei dem Gedanken noch länger als die 39-Vertragsstunden im Folterkeller verbringen zu müssen. Du warst nie faul, aber noch längere Zeit mit Rathwinkel in einem Gebäude zu verbringen, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit das Ende deiner Zurechnungsfähigkeit bedeuten, der letzte Schritt über die Klippe des Wahnsinns, auf der du seit Jahren so gekonnt balancierst.
Tanja könnte doch aufstocken, das hast du noch vor ein paar Jahren gedacht. Ein dummer Gedanke, ein wirklich dummer Gedanke. Du beschwerst dich über deinen Soziopathen-Chef? Deine Frau wird jeden Tag ein kleines Stück mehr in einer Industrie verheizt, die meint, es wäre in Ordnung das Wohl unserer Alten als Ware zu verklopfen. Das hast du zum ersten Mal gesehen, als es Papa immer schlechter ging. Du wurdest sauer auf die Pfleger, die sich nicht richtig kümmern. “Was sollen sie denn machen”, hat Tanja dann gesagt. Wenn auf der Nachtstation zwei Leute gleichzeitig den Knopf drücken ist es vorbei. Eine Kraft, 26 Patienten, Schachmatt. Die Leute reiben sich auf für den Beruf, für ihre Patienten. Bis sie selbst krank werden. Dann springen andere ein, dann werden die anderen krank. Aufstocken? “Ich würde verrückt werden”, hat Tanja gesagt. Der nächste Vollzeitjob wartet nach Abendessen schreiend zuhause. Nein, Aufstocken geht bei Tanja nicht, mehr arbeiten geht bei mir nicht, alles geht nicht. “Hör auf mit der scheiße”, sag ich zu mir. Die Dame an der Fritteuse reicht mir unsere Pommes. Ihr Mund lächelt als ich ihr den 50er in die Hand drücke, ihre Augen tun es nicht.
Von deinem Platz aus, siehst du eine Mutter, wie sie mit ihren beiden Kindern in der Schlange zur Achterbahn steht. Kurz hinter dem 45-Minuten-Smiley. Ihr Blick hat etwas von einer Wölfin, die ihre Jungen verteidigt. Er trifft auf ein Anfang-30er Paar, dass kichernd an den Wartenden vorbei, in die Vorhalle der Achterbahn schwänzelt. “Fast-Lane” nennt sich das. Bourgeoise Scheiße nenn ich das. Das Pärchen hat einfach zum Eintrittspreis noch ein paar Kröten draufgelegt und darf im Park damit Business-Class Achterbahn-Fahren. In Gedanken stellst du dir das Gespräch der Mutter mit einem ihrer Kinder vor:
“Mama, warum dürfen die da drüben rein?”
“Die haben mehr gezahlt.”
“Warum haben wir nicht mehr gezahlt?”
“Weil wir nicht so viel Geld haben.”
“Warum haben wir nicht so viel Geld?”
“Weil dein Vater ein verdammter Hurenbock ist, der meinte es ginge in Ordnung, ein Jahr lang seine neue Kollegin zu bumsen, um danach in die Schweiz abzuhaun für ein bisschen Koks und Nutten. Da für Kokain in der Schweiz eine ordentliche Stange Geld draufgeht, hat es für euren Unterhalt irgendwie nicht mehr gereicht, also wärs Hubba-Bubba-subba toll, wenn du hier nicht diesen Yuppie-Arschlöchern hinterher hechelst, sondern dich verdammt nochmal mit einem Grinsen hier hinstellst, bis wir an der Reihe sind und endlich eine Runde in dieser verdammten Höllenbahn drehen können, damit ich mich zuhause möglichst bald wieder den Anfängen meines Alkoholproblems widmen kann.”
Verdammt, wie im Arsch wir alle sind. Trotzdem geht es weiter, machen wir weiter. Du denkst an die Krieger da draußen, an die alleinerziehenden Mütter, an die Leute die nicht aufhören, an Stan, an Tanja, an den Mann im Kassenhäuschen, an alle mit ihren scheiß Jobs, mit ihren Baustellen, mit ihren kaputten Autos und Nebenkostennachzahlungen, mit ihren Krebskranken, wie sie die Einschläge wegstecken, wie sie sich aus Dispo-Krediten kämpfen, wie sie das beste für ihre Kinder herausholen, wie sie ackern für ihre Lieben. Trotz Energie-Absaug-Karussell, trotz Erektionsstörung, trotz depressiver Episode, trotz Hartz-IV-Antrag, trotz diesen ganzen Wichsern in ihren Chefsesseln. Ein Satz streift deine Gedanken: “Ihr seid verdammte Helden.”
Du hast es geschafft, irgendwann war dir alles egal. Familienfoto, Kuscheltiere, Süßigkeiten, bäm bäm bäm schmeiß die Fuffies durch den Club. Ihr habt zusammen gelacht, habt euch mit Wasser aus dem Brunnen bespritzt, seid müde wieder in eure alte Karre gestiegen. “Und hat’s euch gefallen?” “Jaaaa” “Gibt Schlimmeres.” Das war der 15-jährige.
Wieder zuhause. Du packst dir deinen Ältesten, bevor er in sein Zimmer abhauen kann, greifst ihn im Nacken, ziehst ihn her. “Ich hab dich lieb, Junge” “Alter, Dad, was is mit dir los?” Er schiebt dich weg, aber er grinst. Du kennst dieses Grinsen, es gibt Bilder von dir, auf denen dieses Grinsen zu sehen ist. Du gehst nach unten in die Küche, Tanja steht da und greift sich die Saftflasche aus dem Kühlschrank, stellt ein Glas auf die Theke und gießt ein. Du schlingst die Arme um ihre Taille. “Wir haben’s geschafft”, flüsterst du ihr ins linke Ohr. Deine Frau dreht sich um, schaut dich an. “Gott, bist du schön”, denkst du noch. Dann küsst sie dich, ganz langsam, so wie früher. Guter Tag.
Es fehlt zum Tiefpunkt eines Freizeitpark-Erlebnisses nur der Kommentar, dass man sich durch den ganzen „Spaß“ auch noch Schuldgefühle gegenüber Mutter Erde einhandelt. Abfallbilanz, Wasserbewirtschaftung und Energieverbrauch bei der Anfahrt graben ein tiefes Loch, in das man sich und alle anderen gerne hineinwerfen würde, wenn man an die Zukunft der Kindes Kinder denkt.
Ich finde es spannend, dass die eigene Situation dann befreit wird, wenn der Protagonist das „Du“ in den Mitmenschen erkennt anstatt eine – ihn quälenden – Masse. (Mit Ausnahme des Chefs natürlich) Die Erkenntnis, dass seine Gegenüber Helden sind, impliziert doch, dass auch er selbst ein Held ist, der unter vorgegebenen Umständen immer wieder frei entscheiden kann, wie er seinem Leben begegnet.